Dicke Tropfen fallen aus dem Grau der Wolken
und verharren doch als trüber Vorhang vor den Fenstern des Viertels. In Sturzbächen
ergießen sich die Wassermassen über die Vordächer der angrenzenden Häuser,
vereinen sich zu Miniaturströmen, ehe sie sich dann in Pfützen stauen. Anfangs
noch klein und versprengt, stärker dann, immer mehr zueinander hingezogen und
jetzt zu großen Flächen vereint.
Lukas schaut schon eine ganze Weile, durch
das geöffnete Fenster, in diesen trüben Tag hinaus. Gleich nach der Schule ist
er, um möglichst wenig nass zu werden, nach hause gerannt. Schwer keuchend
stand er vor der Tür, der Brustkorb hob und senkte sich schmerzhaft und die
zittrigen Hände fischten nach dem Haustürschlüssel in seiner Schultasche. Leider
musste er zu lange suchen, so dass er dann doch nass triefend das Haus betrat. Nun
steht er am geöffneten Fenster, die warmen Mikrowellenmakkaroni im Bauch und
ein verregnetes Wochenende vor der Nase. In der Dunkelheit hinter ihm liegen Kisten
voller Spielsachen durchwühlt, ausgeleert, verweist und für untauglich befunden.
Das Chaos, Zeuge eines unsteten Nachmittags. Auch auf den Bolzplatz kann er bei
diesem "Mistwetter" nicht. Und nun bleibt ihm nur noch der Blick auf
die Straße und selbst der könnte trüber nicht sein. Die Regentropfen, zu viele,
als dass man einen einzelnen hätte auf seiner Bahn verfolgen könnte. Das
Rauschen, zu laut, als dass man noch ein anderes Geräusch hätte hören können.
Die Wolken ziehen träge und langsam über den Himmel, ihre Bewegung ist kaum zu
erkennen. Nur wenn sich Lukas auf den Kirchturm in der Ferne konzentriert,
bemerkt er ihr ziehen überhaupt.
Nun sind doch Schritte zu hören. Die schwarze
Lederaktentasche zum Schutz über dem Kopf, huscht eine Gestalt über den
Bürgersteig. Der feine Maßanzug klebt dem Mann längst nass und schwer am
Körper. Das Wasser sammelt sich in seinen eleganten Schuhen und erzeugt bei
jedem Schritt ein quarzendes Geräusch. Mit seinen tänzelten Bewegungen und
Sprüngen ist er bemüht in keine der Pfützen zu treten. Doch da breitet sich
eine Wasserlage vor ihm aus, nur wenige Inseln verbleiben ihm zur Rettung in
diesem Meer aus Regenwasser. Mit den Armen holt er Schwung, springt und landet mit dem linken Bein auf einem der Eilande
in mitten der riesen Pfütze. Einen Moment zögert er und das ist wohl sein Fehler,
der Schwung ist weg, das rettende Ufer noch weit. Um es dennoch zu schaffen
setzt er alles in den nächsten Sprung, schmeißt Arme und Beine nach vorne. Doch
der Sprung gerät zu kurz. Er landet mit einem lauten Platschen mitten in der
tiefsten Stelle. Einen Moment verharrt er regungslos, starrt auf seine Füße,
dann schaut er auf. Die Blicke des Mannes treffen auf die von Lukas. Beide starren
einander an und beide fühlen sich ertappt. Am liebsten hätte sich Lukas einfach
geduckt und wäre so der Situation entgangen, dafür ist es nun aber zu spät, er
hätte nicht zögern dürfen. Und mit jeder Sekunde spürt er, dass immer mehr
Möglichkeiten verstreichen, ohne dass er sie überhaupt erahnt hätte. Also entschließt
er sich zu einem verzweifelten Schritt, Lukas spricht den Mann an. "Macht
doch nichts. Sie waren doch vorher auch schon nass... oder?"
Für einen Wimpernschlag steht dem Mann das
Verblüffen ins Gesicht geschrieben, dann aber gewinnt er wieder die Kontrolle
über seine Mimik und ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. Wie zum Gruß
hebt er dann seine Aktentasche von seinem Kopf und nickt Lukas zu. "Hallo
du da oben. Ich muss wohl einen ziemlich verrückten Eindruck auf dich machen."
Jetzt würde sich Lukas am liebsten einfach
verabschieden, ist ihm der Mann doch wirklich nicht ganz geheuer. Aber da fällt
ihm die Aktentasche auf, die sich so gar nicht wie eine Aktentasche verhalten
will, viel eher wie einer dieser Filmkoffer. Leicht und vollkommen unnatürlich
werden diese durch die Gegend getragen, entgegen jedweder Erfahrung. "Was
haben sie in ihrer Tasche?" platzt es aus Lukas heraus.
Der Mann schielt nach oben auf seine Aktenkoffer,
dabei heben sich seine Mundwinkel synchron zu seinen Augen. "Was glaubst
du denn?"
"Akten vielleicht. Die schleppen mein Eltern
jedenfalls Abend für Abend mit nach Hause... aber irgendwie sieht ihre Tasche
nicht so aus."
Der Mann zieht ein kompaktes Büchlein aus der
Tasche und wedelt damit in der Luft. "Hier ist nur die Bibel, sonst
nichts."
Lukas weiß nicht so recht was er davon halten
soll, weiß noch nicht einmal warum er es überhaupt wissen wollte. Aber noch
immer lächelt der Mann zu ihm herauf, so als wolle er ihn herausfordern und
Lukas weiß sich nicht anders zu helfen, sucht nach der erstbesten Antwort.
"Ah, sie glauben also an Gott?" Kaum das er die Frage ausgesprochen
hat, wird sein Gesicht glühend heiß und er wünscht sich nichts sehnlichster,
als dass der Mann nun einfach weiter gehen würde.
"Ich wünschte, ich könnte es." Mit diesen
Worten fällt das Lächeln aus dem Gesicht des Mannes. Seine Züge werden jetzt
hart, versteinert und obgleich er noch jung ist, wirkt er jetzt unendlich alt.
Lukas wünscht sich nun noch mehr, dass der Mann endlich weitergeht, aber - für
einen Moment verharren seine Gedanken - noch mehr wünscht er sich jetzt das
Lächeln zurück.
"Müssen sie heute nicht mehr arbeiten?"
"Weißt du" beginnt der Mann
"ich muss nie mehr arbeiten." Jetzt weicht sogar die Härte aus seinen
Zügen, schlaff hängt die Haut in seinem Gesicht, der Blick ist fest auf den
Boden gerichtet und verliert sich im Nichts. Das Lächeln ist jetzt noch weiter
entfernt, hat keine Verbindung mehr zu diesem Gesicht. Selbst die Falten um die
Augen des Mannes, Zeugen eines heiteren Lebens, wirken wie Narben eines
längstvergangenen Kampfes. "Niemand kommt hier lebend raus.", murmelt
er kraftlos, fast übertönt ihn das Rauschen des Regens.
Lukas versteht nicht was der Mann ihm damit
sagen will. Erst Jahre später, als er an einem ähnlich trüben Tag wieder in den
Regen hinaus starrt, soll es ihm klar werden. Jetzt aber erlöst ihn der Mann und
die Erleichterung wischt alle Gedanken beiseite. "Schönen Tag noch junger
Mann." Wieder hebt er seine Aktentasche, wie einen Hut zum Abschied,
klemmt sie dann aber unter den Arm und stapft ungeachtet der Pfützen einfach davon.
Lukas schaut ihm noch eine Weile hinterher,
dann sieht er den Wagen seines Vaters um die Ecke kommen - so früh schon? Hoffentlich
weiß er was man mit so einem trüben Tag anfangen kann.
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